Entenflügel stutzen

Viktor, unsere Ente, hat leider sein Augenlicht nicht wiedererlangt, obwohl es mir scheint, dass er mittlerweile zumindest auf minimale Entfernungen wieder ein bisschen etwas wahrnehmen kann. Bis vor kurzem dachte ich, dass ihn dies sowieso am Wegfliegen über unseren mannshohen Zaun hindern würde, weshalb er jeden Tag stundenlangen Freigang im Garten genießen durfte. Dann wurde ich aber eines Besseren belehrt.

Zum Glück war ich gerade draußen im Garten, als er seine Schwingen erhob und quasi aus dem Stand in einem eleganten Bogen rund 150 Meter weit in die brachliegende Nachbarwiese flog. Hätte ich ihn nicht dabei beobachtet – ich hätte ihn vermutlich nie wieder gefunden in dem Gestrüpp.

So hab ich versucht, mir den ungefähren Landeplatz einzuprägen, und mich dann auf die Suche gemacht. Eine Viertelstunde später war der Racker wieder sicher in seinem Verschlag verwahrt. Aber dort wollte ich ihn auf keinen Fall dauerhaft einsperren – der Käfig sollte ihn eigentlich nur zur Sicherheit über die Nächte beherbergen.

Was also tun? Fest stand, dass er am Wegfliegen gehindert werden musste. Eine einzelne blinde Ente überlebt die freie Wildbahn vermutlich keinen Tag lang. Die Autos auf der Straße, die Bahnstrecke auf der anderen Seite, eine reichhaltige Hundepopulation, der Fuchs aus dem nahen Wald und eventuell sogar die zahlreichen größeren Raubvögel … die Liste der Gefahren kann man wohl beliebig fortsetzen. Also … vielleicht die Flügel stutzen?

Nachdem ich erst eher dazu tendiert habe, die Ente zum Tierarzt zu kutschieren und das fachgerecht erledigen zu lassen, hab ich dann doch noch einmal Google konsultiert und – wie üblich – verschiedenste Meinungen zum Thema präsentiert bekommen. Die Flügel ganz zu kappen wäre mir nie in den Sinn gekommen, war aber früher anscheinend gang und gäbe und ist mittlerweile per Gesetz untersagt. Recht so.

Manche kappen einfach die großen Schwungfedern indem sie im äußeren Bereich die Kiele mit einer Schere abtrennen, was den Tieren anscheinend auch nicht weh tut. Auch das erschien mir nicht als Mittel der Wahl. Die Kiele sind hohl, und gerade ein Wasservogel plantscht dauernd in (eventuell nicht ganz sauberem) Wasser herum, was eine ziemlich unschöne Infektionsquelle sein könnte.

Zu guter Letzt hab ich irgendwo eine Beschreibung gefunden, die mir am schonendsten erschien: Einfach die Innenfahnen der fünf längsten Schwungfedern einer Schwinge bis zum Ansatz der nächsten Federreihe zu kürzen. Das klingt sehr abstrakt – deshalb hab ich es versucht aufzuzeichnen:

Enten-Schwingen kürzen

Ich hab Viktor also vorsichtig im Knien zwischen meine Beine genommen, seine rechte Schwinge ausgebreitet und innen an den Kielen entlang die feinen Fahnen mit einer scharfen Schere abgeschnitten – ungefähr bis auf die Höhe der nächsten ansetzenden Federreihe. Ganz überzeugt hat mich das nicht, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass ihn dies komplett am Fliegen hindern würde.

Aber erste Flugversuche nach der „Operation“ haben gezeigt, dass dies wirklich genügt: Er konnte sich immer wieder ein paar Zentimeter über den Boden erheben, aber nicht mehr. Keine Rede mehr vom Überfliegen des mannshohen Gartenzauns.

Ich bin mit der Methode sehr zufrieden. Die Ente ist optisch nicht entstellt und leidet nicht unter der „Beschneidung“. Natürlich würde das Fliegen zu einem normalen Entenleben dazugehören, aber so gerne ich Viktor hinterhergeschaut hätte, wenn er mit einem Entenschwarm weggeflogen wäre, so ungern würde ich ihn platt auf der Straße oder von einem Fuchs gerissen auffinden. So erscheint mir das als der beste Kompromiss.

Erstaunlicherweise hat der zahme Enterich sich die Prozedur auch sehr bereitwillig gefallen lassen. Wiederholen muss ich sie ohnehin erst nach der nächsten Mauser, wenn er im späten Frühjahr hormongesteuert sein Prachtgefieder verliert und innerhalb von rund einem Monat wieder erneuert.

Aber erst einmal muss der Racker gut über den Winter kommen, weshalb ich schon ein schnuckeliges Quartier mit großem Gartenauslauf plane. 🙂