Speed-Reading

Draußen schneit es wie verrückt und in der Früh blühen bei minus 15 Grad die Eisblumen auf den alten Fenstern. Mit meinen Frostbeulen an der rechten Hand ist es im Moment keine gute Idee, mich im Freien herumzutreiben. Daher war erst einmal ein anderes Thema angesagt, das schon länger auf der Agenda steht – Speed Reading, Schnelllesen.

Wenn die arge Kälte nicht wäre, könnte man sich den Anblick der schönen sonnenbeschienenen Eisblumen ja täglich wünschen:
Eisblumen
Eisblumen
Eisblumen
Wie auch immer – Speed Reading war angesagt, also die Vervielfachung der Lesegeschwindigkeit bei vollem Textverständnis.
Ich hab die – durchaus kontrovers diskutierte – Thematik irgendwann einmal aufgeschnappt, mir aber nicht wirklich vorstellen können, dass dies tatsächlich funktioniert. Und zudem lese ich viele Bücher auch unter Anderem genau deshalb, weil ich den Klang der Sprache wirklich mitbekommen und die Textstimmung regelrecht „inhalieren“, also nicht einfach nur schnell überfliegen möchte. Genau das ist meines Erachtens die erste Einschränkung: Wirklich funktionieren und für mich auch Sinn machen tut diese Lesetechnik nur bei Fachliteratur, deren Inhalt man möglichst schnell und nachhaltig ins eigene Gehirn transferieren möchte. In diesem Fall klappt das aber erstaunlich gut, wie ich nach Recherche der einschlägigen Techniken und eigenen Versuchen bestätigen kann. Es geht also nicht in erster Linie darum, ein Buch möglichst schnell durchzulesen, sondern in möglichst kurzer Zeit viel neues Wissen zu erwerben.

Grundlagen

Grundlage für die Vorgehensweise sind etliche Erkenntnisse aus der Neuropsychologie, die Fähigkeit unseres Gehirns zur Mustererkennung und vor allem die oft formulierte Tatsache „Wiederholung ist die Mutter des Wissens“ (frei übersetzt aus dem Lateinischen „repetitio es mater studiorum“). Liest man ein Buch mit Hilfe der gängigen Schnelllesetechniken, so arbeitet man es in Summe mehrmals durch, allerdings in einem Bruchteil der normalen Lesezeit.

Oft führt extra langsames und aufmerksames Lesen sogar zum gegenteiligen Effekt: Unser Gehirn langweilt sich und schweift ab, was wiederum dazu führt, Passagen unter Umständen nochmal zu lesen, und so noch mehr Langeweile zur Folge hat. Dazu hat es beim Schnelllesen keine Gelegenheit. Mit folgenden Techniken hab ich meine Lesegeschwindigkeit in kurzer Zeit von ohnehin brauchbaren 450 Wörtern pro Minute auf rund 850 bis 900 Wörter gesteigert – bei 85 bis 90 Prozent sinngemäßer Texterfassung.

Vorab sollte man sich bewusst sein, dass das Pareto-Prinzip (80/20) auch bei dieser Thematik anwendbar ist: 80 Prozent des wichtigen Inhalts liegen in 20 Prozent des Textes. Daher ist es wichtig, sich vor dem Lesen ein Ziel zurechtzulegen, mit dem man ein Buch durcharbeitet, und den Text in dieser Hinsicht zu priorisieren. Das geschieht mehr oder weniger unbewusst, wenn man das Ziel richtig im (Unter-)Bewusstsein verankert.

Weiter sollte man einen Zeiger (z.B. Finger) verwenden, den man so schnell am zu lesenden Text entlangführt, dass man aufhört, ihn zu vokalisieren, also (zumindest in Gedanken) „auszusprechen“. Vom vokalen Lesen kommt man so zum rein visuellen Lesen. Die Augenbewegungen werden nebenbei schneller, flüssiger und sind weniger ermüdend.

Wie weiter oben schon erwähnt, kann ist unser Gehirn ein Meister der Mustererkennung. So genügen einem geübten Leser oft schon zwei bis drei gelesene Worte, um den Rest des Satzes zu (re)konstrukieren. Dies macht man sich beim eigentlichen Schnelllesen – einem von sechs empfohlenen Schritten – letztendlich zunutze.

Vorgehensweise

  • Buch erforschen: Klappentext und Inhaltsverzeichnis lesen. Buch entspannt durchblättern und Überschriften, Bilder, Grafiken etc. kurz betrachten.
  • Zielsetzung: Welche Information aus dem Buch brauche ich wofür? Was mache ich mit dem Wissen, wo sehe ich mich selber damit?
  • Scannen: Durchblättern des Buchs mit einer Geschwindigkeit von ca. 1 Seite pro Sekunde mit offenem Fokus. Unbewusst lernt das Gehirn, wo es die Informationen der Zielsetzungsphase im Buch finden wird. Dies funktioniert durch die oben erwähnte Fähigkeit der Mustererkennung (pattern recognition).
  • Schnelllesen: Dieser Schritt macht sich eben diese Mustererkennung voll zunutze. Mit etwas Übung liest man hier nicht nur von links nach rechts, sondern jede zweite Zeile einfach von rechts nach links (mit Zeiger!). Dies spart viel Zeit, die man nicht mehr im „Leerlauf“ beim Rückspulen der Zeilen verschwendet, und ermüdet die Augen viel weniger. Und mit noch mehr Übung schafft man dies mit drei Zeilen oder mehr pro Hin- und Retourweg! Klingt unglaublich, funktioniert aber tatsächlich (bei Interesse unbedingt ausprobieren und üben)! Das Gehirn weiß aus den vorhergehenden Schritten, welche Informationen es braucht und wo es sie findet, und ergänzt fehlende Bruchstücke im Rekordtempo.
  • Mindmapping: Nach dem Schnelllese-Schritt sollte man das neu erworbene Wissen gleich in einer Mindmap notieren, deren Struktur man initial ungefähr am Inhaltsverzeichnis orientiert. Dabei kann man das Buch nochmal durchblättern, wobei das Gehirn einen automatisch auf die wichtigen Passagen aufmerksam macht. Der Inhalt sollte in diesem Schritt auch reflektiert, mit bestehendem Wissen verglichen und verknüpft, von Überflüssigem befreit und auf eventuelle fachliche Lücken hin analysiert werden.
  • Wiederholen und Erinnern: Um das Ganze im Langzeitgedächtnis zu verankern, sollte man nach einiger Zeit die Mindmap aus dem Gedächtnis neu aufbauen und mit der vorab erstellten vergleichen – bei wichtigen Themen wirklich so lange, bis man nichts mehr vergisst.

Die entstandenen Mindmaps kann man den Büchern beilegen und so die Essenz immer parat haben.

Ich muss zugeben, dass ich von den Ergebnissen selber überrascht war bzw. bin. Unser Gehirn ist schon ein erstaunliches Werkzeug, wobei mich manchmal wirklich eine gruselige Ahnung beschleicht, was möglich wäre, wenn man nur verstünde,  wirklich 100 Prozent seines Potentials zu nutzen. 🙂