Sekundäre Pflanzenstoffe und das Hormesis-Prinzip

Alles in allem war das Osterwochenende nicht sehr erbaulich, weil von einer Unmenge an liegengebliebener Arbeit überschattet, die einfach getan werden musste. Es lebe die Selbständigkeit! Man arbeitet bekanntlich selbst, und das ständig. 😉 Und dennoch möchte ich die gewissen Freiheiten, die sie mit sich bringt, nicht missen.
Einzig meine seit langem geplante Recherche-Sitzung zum Thema „Sekundäre Pflanzenstoffe“ hab ich gestern Abend eingeschoben – mit sehr interessanten Ergebnissen.

Mittlerweile hat sich ja herumgesprochen, dass Obst und Gemüse nicht nur wegen der enthaltenen Vitamine so gesund sind, sondern in erster Linie durch die in einer unglaublichen Vielfalt enthaltenen sekundären Pflanzenstoffe. Quercetin in Äpfeln, Curcumin in der Gelbwurz, Resveratrol in Weintrauben und viele mehr sind (im doppelten Sinn) in aller Munde. Doch hinterfragt man, was hinter diesen Stoffen eigentlich steckt, so kommt man zu einem auf den ersten Blick erschreckenden Ergebnis: Es sind im Grunde Giftstoffe, mit denen sich die Pflanzen gegen ihre Feinde wehren. Sozusagen das C-Waffen-Arsenal des Pflanzenreiches gegen Bakterien, Viren, Pilze und Parasiten!

Und das soll gesund sein? Ist es tatsächlich, und zwar durch das Hormesis-Prinzip, das ich vor meiner Recherche unter diesem Begriff nicht gekannt habe. Es handelt sich dabei um den bekannten dosisabhängigen Umkehreffekt: Geringe Dosen eines Giftstoffes können einen positiven Effekt auf den Organismus haben, der sich bei steigender Konzentration jedoch ins Gegenteil verkehrt. In einem Graphen dargestellt ergibt dies meist die charakteristische J-Kurve (siehe Wikipedia-Link oben). Umgangssprachlich auf den Punkt gebracht würde der passende Slogan lauten: „Was uns nicht umbringt, macht uns nur härter“.

Jede Zelle unseres Körpers verfügt über komplexe Reparaturmechanismen, genauso wie unser Organismus in der Gesamtheit. Gegen wiederholte, bewältigbare Angriffe und Schädigungen werden ausgeklügelte Abwehrmechanismen entwickelt. Diese lassen den Verteidiger zumeist stärker zurück als vor dem Problem, weil er sich gleichzeitig für künftige ähnliche Vorfälle rüstet – er kompensiert über. Kritisch wird es nur, wenn die Dosierung des schädlichen Stoffes die Abwehrkapazitäten einer Zelle oder eines Organs überschreitet – genau wie es schon Paracelsus im 16. Jahrhundert formuliert hat: „Die Dosis macht das Gift“.

Die Wirkung von Resveratrol, Sulforaphan (z.B. im Brokkoli) & Co dürfte grob beschrieben auf folgendem Prinzip beruhen: In normaler Dosierung, wie man sie über die Nahrung zu sich nimmt, lösen diese Giftstoffe im Körper die entsprechenden hormetischen Reaktionen aus. Sirtuine für die Zellreparatur werden aktiviert, Telomerase wird gebildet um die Telomere zu schützen, antioxidative Enzyme schwärmen aus um die freien Radikale unschädlich zu machen usw. Das trainiert den Organismus und macht ihn fit für zukünftige Widrigkeiten. Absolut spannend, wie ich finde.

Interessanterweise sind immer noch sehr wenige der geschätzten 50.000 sekundären Pflanzenstoffe gut erforscht. Ein sehr bekannter Kandidat ist beispielsweise das Resveratrol der Weintrauben, das eigentlich ein Anti-Pilz-Mittel ist, das die Pflanze allen Pilzen entgegensetzt, für die sie wegen des hohen Feuchtigkeit- und Zuckergehalts die ideale Nahrung wäre. Es wirkt durch die Förderung von Sirtuin-Genen lebensverlängernd, hält schlank, führt Krebszellen in die Apoptose (zumindest in-vitro) und hat eine schützende Wirkung beim Glaukom. Ein beeindruckendes Medikament, frei erhältlich in jedem Supermarkt.

Der Hormesis-Effekt mit der einhergehenden Überkompensation greift natürlich nicht nur bei der Ernährung. Auch wenn wir unsere Muskeln trainieren, passiert Ähnliches: Mikroverletzungen und kleine Zerrungen treten auf, wenn die Höchstgrenze der Belastbarkeit überschritten wird, was sich durch unangenehmen Muskelkater äußert. Im Endeffekt bewirkt jedoch genau dies, dass der Muskel über das bestehende Maß hinaus repariert und aufgebaut wird um für die nächste Trainingsrunde besser gerüstet zu sein. Und auch die positive Wirkung des Fastens lässt sich auf den Hormesis-Effekt zurückführen. Einen interessanten Artikel dazu gibt es hier: http://www.spektrum.de/news/wie-giftige-pflanzenstoffe-uns-gesuender-machen/1405270

Ich bin jedenfalls fasziniert von dem Thema. Meines Erachtens sind wir erst am Anfang, dieses extrem komplexe Netzwerk an Ursache-Wirkung- und Rückkopplungsketten in unserem Organismus zu verstehen. Wäre ich noch jünger, würde ich wahrscheinlich ein einschlägiges Fach der der Uni inskribieren. Als „alte Schachtel“ bleibt mir aber immerhin die Freude, an dem Thema dranzubleiben, mich an meinen gesunden Gartenprodukten zu erfreuen und hoffentlich noch lange gesund zu bleiben, um noch viele neue wissenschaftliche Erkenntnisse dazu mitzukriegen. 😉

In diesem Sinne … Frohe Ostern und immer brav Obst und Gemüse mampfen!

🙂